Flammentod

"Unser ganzes Kunststück besteht darin, dass wir unsere Existenz aufgeben, um zu existieren"*

 

Ein Mann eilt in die Wohnung eines Freundes. Er hat dort engste Vertraute versammelt um Ihnen Zeilen vorzulesen, die keinen Aufschub dulden. Seit Tagen hat er nicht mehr geschlafen, ist getrieben, die Gedanken schnell wie eine Rakete, Gedanken die rasen und ihn bis an den Rand der Erschöpfung bringen. Endlich bei den Freunden angekommen sucht er verzweifelt nach den entscheidenden Zeilen, die "Weltformel" wie er sie nennt, blättert in seinen Notizbüchern, durchsucht seinen Laptop, wälzt sich schliesslich auf dem Boden, schreit, schimpft, bezichtigt die Freunde des Diebstahls. Kurz bevor Sanitäter ihn abführen, meint er den Text gefunden zu haben und liest ihn vor: "Alles ist richtig. Alles ist richtig. Alles ist richtig. Die Welt ist eine Schleife. Das Leben ist das Leben, und das Nichts ist das Nichts."

 

Die Geschichte ist tragisch und wahr. Sie handelt vom Autor Wolfgang Herrndorf, der in "Arbeit und Struktur" das Fortschreiten seiner tödlichen Hirntumorerkrankung dokumentiert. Man mag damit die oben genannte Episode als Begleiterscheinung der Erkrankung abtun, und sicherlich ist sein Verhalten an diesem Abend auch diesem Umstand geschuldet. Doch da ist mehr. Tage vor dem Zusammenbruch meint Herrndorf besondere Erleuchtung gefunden zu haben. Diese mag wahrhaftig oder eingebildet sein, es spielt nicht wirklich eine Rolle. Wichtiger ist, wozu ihn dieser Umstand bewegte. Rastloses Erforschen und Hinterfragen, Arbeiten bis zum Zusammenbruch im Glauben, an etwas "Großen" dran zu sein, das womöglich das eigene Leben transzendiert. Und damit wird es beinahe zur Notwendigkeit sich an den Rand des Verstandes und der Gesundheit zu bringen, an einen Punkt der kompletten Selbstaufgabe, um die Bedeutung des Erschaffenen zu untermauern. Schwer zu sagen ob eine Kausalität zwischen beiden besteht, und in welche Richtung sie geht. 

 

Die "Weltformel", die Herrndorf letztendlich hervorbrachte, kann man als Produkt eines verwirrten Geistes werten. Herrndorf urteilte später selbst derart darüber. Dass Herrndorf im Zuge des Schaffens dieser Formel eine Art Erleuchtung erreichte, die ihm zumindest im selben Moment als absolut, transzendierend und übermächtig erschien und dies vielleicht auch war, ist dennoch gut möglich. Dass er letztendlich kein Mittel fand, diese Erleuchtung an seine Umwelt, ja nicht einmal an sich selbst, verständlich zu kommunizieren, suggeriert dass die Erleuchtung tatsächlich nicht vorhanden war, oder aber dass sie zu groß und zu persönlich war, um sie anderen begreiflich zu machen. Wie viele dieser Dinge, die so gross sind, dass sie entschwinden sobald der Geist und die Vernunft sie zu fassen versuchen. Freunde, die dem Ereignis beiwohnten, berichten von Schleifen und Metaschleifen der Argumentation, die Herrndorf zur Herbeiführung der Weltformel versuchte anzuwenden. Wie so häufig bei Themen deren Komplexität die Vernunft zu sprengen drohen (siehe auch Seltsame Schleifen). Hier ist ein Mensch, der durch Krankheit und andere Umstände an den Rand der Selbszerstörung glitt. Und genau in diesem Zustand eine besondere Schaffenskraft verspürte. Als ob das "Werden" ein "Sterben" bedingen würde. Die Geschichte beschreibt einen Zerfallsprozess. Beziehungsweise einen Schaffensprozess. Oder beides? 

 

Das Thema zieht sich durch Literatur und Philosophie wie ein roter Faden. Nietzsche spricht vom Prinzip der Selbstüberwindung. William Faulkner meint, das einzig lohnenswerte Thema für einen Schriftsteller sei das menschliche Herz im Widerstreit mit sich selbst. Karl Marx und Schumpeter beziehen sich auf die "schöpferische Zerstörung" die wirtschaftlichen Prozessen zugrunde liegt. Auch Johann Wolfgang von Goethe hat sich auf dieses "Sterben und Werden" bezogen, und vielleicht am schönsten von allen in seinem Gedicht Selige Sehnsucht beschrieben, das auch dieser Seite Pate steht:

 

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebend'ge will ich preisen,

Das nach Flammentod sich sehnet.

 

In der Liebesnächte Kühlung,

Die dich zeugte, wo du zeugtest,

Ueberfällt dich fremde Fühlung

Wenn die stille Kerze leuchtet.

 

Nicht mehr bleibest du umfangen

In der Finsterniß Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.

 

Keine Ferne macht dich schwierig,

Kommst geflogen und gebannt,

Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist du Schmetterling verbrannt,

 

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und Werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

 

Natürlich ist das "Sterben" nicht wörtlich aufzufassen. Es bedarf keiner tödlichen Krankheit, um kreative Erleuchtung zu erlangen. Wohl geht es mehr um ein Loslassen, ein Aufgeben des für sicher Geglaubten und eine damit einhergehende Öffnung für Neues. Herrndorf war bereits vor seiner Erkrankung ein beachteter Autor. Und dennoch, seine besten Werke schrieb er danach. Vielleicht auch weil ein Aufgeben und Loslassen dann zur existenziellen Notwendigkeit wurden.

 

Herrndorf's Geschichte ist tragisch und endet leider auch so. Schwer beeinträchtigt von den Folgen seiner Krankheit wählt er im Alter von 48 Jahren den Freitod.  Es bleibt zu hoffen, dass er Trost gefunden hat in der Gewissheit, kein trüber Gast gewesen zu sein auf dieser Erde, sondern einer der es verstand, immer wieder zu verbrennen nur um noch heller brennen zu können.  

 

Am Tag nach seinem Zusammenbruch vor den Freunden lässt sich Herrndorf, wieder bei vollem Bewusstsein und vielleicht klarer denn je, vorsichtshalber in die Psychiatrie einweisen. Nicht ohne sich davor jedoch ein Pinguinkostüm überzustreifen. Wie ein Phönix aus der Asche. 

 



*Aus J.W. Goethe, Maximen und Reflexionen

Kommentar schreiben

Kommentare: 0